Gemeinschaft aus Individuen

Für mich erhebt sich immer wieder neu die Frage, was eine Gemeinschaft ist und wie sie zu Definition und Identität kommt. Das ist eines meiner experimentellen und philosophischen Themen – und deshalb beginnt hier (m)eine mehr theoretische und die Experimente reflektierende Betrachtung…

Eine Lebensgemeinschaft ist ein abgegrenzter Bereich von individuellen Menschen, die sich dauerhaft zu dieser besonderen Art von menschlicher Gemeinschaft bekennen. Es gibt innerhalb eine Menge unterschiedlicher und sich laufend verändernden Beziehungen in Art, Qualität, Intensität und Zuneigung zwischen den Individuen.

Die Gemeinschaft ist wohl zunächst eine formale Klammer um diese Menschen und bildet im Lauf der Zeit zunehmend eine wahrnehmbare eigene Identität, eine eigene Wesenseigenschaft, ein eigenes Wesen. Diese Identität wird traditionell meist durch Gründer oder Stamm-Mitglieder ‚gestiftet‘, d. h. es gibt konkrete ausgesprochene aber auch unausgesprochene Visionen, Selbstbilder oder Regeln, an die sich alte und neue Mitglieder zu halten haben und häufig werden diese in Vereinen mit Satzungen vertraglich abgesichert.

Dieses bisherige Modell von vielen Lebensgemeinschaften, also das ‚Stiftungsmodell‘, orientiert sich – nach allem was mir zugetragen wird – an den allgemeinen und von allen stark verinnerlichten Verhältnissen bzgl. Eigentum, Macht, Hierarchie, Patriarchalität, Verpflichtung, Vertraglichkeit, Unterordnung usw.
Das finde ich nicht weiter wert- oder nachhaltig und manchmal auch geradezu langweilig. Ich selbst möchte auch mein persönliches Verhältnis zur Machtausübung überarbeiten und habe weiter kein Interesse ausgedientes Verhalten zu verlängern. Das dient weder der Menschheit noch den Menschen.

Eine andere Variante ist die selbstorganisierende Gemeinschaft, deren Grundlagen, Prinzipien und Funktionalität mich interessiert. Ich versuche dieses unbekannte und untypische Gemeinschaftskonzept zu verstehen und deren Realisierung nach meinen Erkenntnissen zu fördern und unterstützen.

Eine Grundidee ist mit jedem neuen Menschen, der sich künftig zu dieser Gemeinschaft bekennen wird, die mit diesem sich dann wieder neu zusammensetzende Gemeinschaft gemeinsam zu reflektieren – es entstehen ja plötzlich wieder völlig neue Potenziale und Verhältnisse unter allen Mitgliedern. Es sollte also keine automatische Fortsetzung von etwa übereingekommenen Regeln oder Verhaltensweisen geben.

Bislang fand ich es aus den genannten Gründen für mich nicht notwendig andere Gemeinschaften anzuschauen, zudem wir ja bereits Erfahrungen im traditionellen Modell gemacht haben und diese mittlerweile auch recht kritisch reflektieren. Für mich gilt es künftig sehr aufmerksam wahrzunehmen, welche Potenziale jetzt bei uns vorhanden sind und welche Energien sich breit machen wollen.

Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Bewusstheit sind, meiner tiefen Überzeugung nach, keine von Dritten übernehmbare Praktiken, sondern werden laufend in den aktuellen und konkreten Situationen entwickelt bzw. direkt realisiert. Der Bewusstseinsfokus liegt dabei jeweils ausschließlich auf der eigenen persönlichen Bewusstheit im jeweiligen Jetzt und unterscheidet sich diametral von den eher auf Dauer angelegten Methoden, Systemen und Regeln der traditionellen Herangehensweise.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich innerhalb einer solchen selbstorganisierenden Gemeinschaft eine Art ‚Gruppengeist‘ herausbildet, dem dann sozusagen ‚gehuldigt‘ wird. So darf man bei bewusster Hingabe seitens der Gemeinschaftsmitglieder davon ausgehen, dass sich dieser Geist laufend selbst erneuert und verstärkt. Es bleibt die Vision, dass dieser Geist ein immer stärkeres Eigenleben entwickelt und sich auf die gesamte Gruppe legt. Der Geist selbst soll dann weitere künftige Gruppenmitglieder anziehen und wird nach meinem Verständnis der Resonanz auch Unpassende abstossen. Die Grundidee ist also, anstelle die Gemeinschaft über Methoden, Systeme oder Regeln abzusichern, ‚unserem‘ Geist und dem allem zugrundeliegenden Resonanzprinzip zu vertrauen.

Jede Gemeinschaft hat die Möglichkeit ihre eigene Variante von Gemeinschaft, eigene Methoden und Systeme oder einen eigenen Geist zu realisieren, wobei völlig offen ist, welcher das Universum bzw. die in der Zeit ablaufende Evolution welchen Erfolg und welche Dauer zugesteht. Insofern könnte man von einem langfristigen Wettbewerb um die beste oder passendste Variante sprechen, die natürlich objektiv erst nach der Lebenszeit der Grundleger irgendwann mal bewertet wird ;-).  Man selbst hat auch nur geringen Einfluss auf diesen Erfolg oder die Weiterentwicklung durch die kommenden Generationen. Das wiederum kann die Sache auch sehr verantwortungsleicht machen und eine Lust am Experiment zulassen.

Zudem gibt es bis zu einer eventuell angestrebten Größe auch immer einen Wettbewerb um neue Mitglieder, da wir weltweit durch die modernen Gesellschaften die ehemals tribalistischen Gemeinschaften – also Gemeinschaften, die sich laufend aus sich selbst heraus erneuern – zu 99,9999 Prozent ersetzt haben. Für Nicht-Gründer – also neue Mitglieder – gibt es prinzipiell zwei Grundvarianten: Erstens, man ordnet sich mehr oder weniger einem bestehenden Ordnungssystem mit Regeln, Hierarchien, Sanktionen und dergleichen unter oder schliesst sich einer Gemeinschaft gar sozusagen ‚konsumierend‘ an – in meinen Augen eben ausgediente Modelle – oder, zweitens, man will sich direkt gemeinschaftsgestaltend einbringen. Viele Gemeinschaften lassen die zweite Variante nicht zu bzw. man muss sich zunächst anpassen und kann beim ‚Marsch durch die Institutionen‘ allmählich seinen Einfluss geltend machen.

Ich suche einen Weg für dieses zweite Modell, das jedes neue gestaltungswillige Mitglied als Gestaltungswilligen wahrnimmt. Das Grundlegende an diesem Modell kann man mit ‚Gemeinschaft in Eigeninitiative und Selbstorganisation‘ umschreiben, was ich selbst bisher nur zu einem eher geringen Maß verstehe und teilweise erst erahne. Allerdings machen wir hier auf MonteBasso sehr interessante Erfahrungen, beispielsweise mit den HeartCamps, die das Prinzip der Eigeninitiative und Selbstorganisation modellhaft und experimentell erforschen und bereits sehr erfolgreich sind. Erfolg in diesem Sinn bedeutet, dass die HeartCamp-Tage bisher ohne steuernde Eingriffe auf allen Ebenen funktionierten und alle Teilnehmer extrem glücklich waren und nachhaltig inspiriert sind. Erfolg bedeutet auch für mich persönlich, mich in meiner ursprünglich und ansozialisierten politischen (= gesellschaftsteuernd und eingreifend) Art zurückzunehmen und die Sich-Entfaltung-der-temporären-Gemeinschaft zuzulassen und zu geniessen.

So weit, so gut bzw. ein Anfang mit Magie und ohne Gewissheiten.


Autor: Theodor Neumaier, MonteBasso in Eggiwil (Schweiz)
Stand: 13. Juli 2016

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